Agentur der Zukunft: Full-Service-Agenturen auf dem Abstellgleis?
Alles aus einer Hand – das ist immer seltener der Fall, wenn Unternehmen Agenturen beauftragen. Angesichts des rapiden digitalen Wandels sind maßgeschneiderte Agenturmodelle gefragt. Steht die Full-Service-Agentur vor dem Aus?
Von der Full-Service-Agentur hin zu Customized Agencies
Mit jeder neuen Technologie erhöhen sich die Anforderungen an Unternehmen, um sich dauerhaft am Markt zu bewähren. Das übersetzt sich unweigerlich in die anspruchsvolle Arbeit von Agenturen, die sich zunehmend mit großen Beratungsunternehmen wie Accenture oder Deloitte konfrontiert sehen. Was sollen kleinere bis mittelgroße Agenturen den Beteiligungen der großen Player oder Customized Agencies, die in ihren Markt drängen, entgegensetzen?
Es wäre nötig, die eigene Agenturexpertise bezüglich digitaler Werkzeuge und Methoden kontinuierlich auf dem neuesten Stand zu halten und zu erweitern. Doch da die große Bandbreite an digitalen und beraterischen Leistungen schwer auf durchgehend höchstem Niveau abzubilden ist, kommen immer häufiger Freelancer und Spezialagenturen ins Spiel, die den Kompetenzbereich einer Full-Service-Werbeagentur ergänzen. Wie schätzt ein Insider die Entwicklung von Full-Service-Dienstleistern ein?
Wir fragten Christian Tiedemann, CEO der PIA Group, wie er die Veränderungen in der Agenturarbeit in den letzten fünf bis zehn Jahren wahrgenommen hat und inwiefern sich die Branche in einem Umbruch befindet.
Christian Tiedemann: „In den letzten 5 bis 10 Jahren konnten wir gleich mehrere Veränderungen beobachten:
- Attraktivität der Branche: Kreativität steht bei vielen Werbetreibenden nicht mehr hoch im Kurs. Bestellt und geliefert wird ein Werbemittel – gerne automatisiert. Der berechtigt steigende Einfluss von Procurement & Co. hat zur schrittweisen Entzauberung der Branche beigetragen – und das inmitten der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie.
- Decoupling, Inhousing, Nearshoring und Projekt- statt Retainerhonorare erschweren die Planbarkeit von Talent und Strukturen.
- Wettbewerbsumfeld: GAFA´s mit unbegrenzten finanziellen Ressourcen disrupten den Markt, dominieren die technologischen Entwicklungen und sind Magneten für Kunden und Arbeitsmarkt.
- Accenture & Co. sind gekommen, um zu bleiben.
- Work-Life-Balance, Vergütungsansprüche und Talentknappheit stehen in krassem Widerspruch zu der Honorierungsbereitschaft der Kunden und zwingen alle Agenturen zu mehr Effizienz.“
Vor diesen Herausforderungen steht die Agenturlandschaft
Für Full-Service-Werbeagenturen stellen sich dadurch, dass Employer Branding und Marketing-Maßnahmen immer häufiger intern abgebildet werden, neue Aufgaben. Das Ganze verstärkt sich durch die Wechselseitigkeit des Dialogs mit den Kunden beziehungsweise der Zielgruppe: Unternehmen können der anspruchsvollen Echtzeitkommunikation eigentlich nur gerecht werden, wenn sie ihre Ressourcen inhouse gut aufstellen.
Schließlich wissen wir alle, wie wichtig der authentische, jederzeit herstellbare Dialog via Social Media für Unternehmen geworden ist. Letztlich kann eine Werbekampagne noch so gut sein und doch nicht genügen, wenn die Interaktion mit den Kunden hinterherhinkt und kein Vertrauensverhältnis aufgebaut wird. Auch hier wanken also die Fundamente von klassisch agierenden Full-Service-Agenturen.
Wir fragten Christian Tiedemann:
Vor welchen großen Herausforderungen steht die Agenturlandschaft und wie müssen sich die Agenturen ausrichten, um zukunftsfähig zu sein? Welche wichtigen Eigenschaften und Kompetenzen müssen Agenturen dafür mitbringen?
“1. Global gesehen verschieben sich Marketinginvestments massiv in Richtung Technologie und Implementierung. Da im Wettbewerbsumfeld mitzuhalten wird für alle Agenturen zum Problem.
2. Agenturen müssen sich zu Plattformen entwickeln, maßgeschneiderte hochintegrierte, „tech-led-hybrid“-Lösungen anbieten, bauen und betreiben können.
3. End-to-end erfordert neue Skillsets und Organisationsformen.“
Darauf kommt es für die Agentur der Zukunft an
Wichtiger denn je sind heutzutage Agenturen, die entweder spezialisiert sind oder auch Beratungsleistungen anbieten, um ihren Kunden im Sinne einer langjährigen Kooperation einen spürbaren Mehrwert zu bieten. Der Vorteil von Full-Service-Agenturen gegenüber dedizierten Beratern ist, dass sie den Markt, die Zielgruppe und die Branche ihrer Kunden sehr gut kennen.
Der Schritt zur Marketingberatung für Unternehmen kann für Agenturen eine Möglichkeit sein, die eigene Expertise nachhaltig beim Kunden zu verankern. Wer frühzeitig Trends und Problemstellungen erkennt und die eigene Kreativität zur Lösungsfindung heranzieht, hat gute Chancen, sich als dauerhafter Partner und Stratege an der Seite eines Kunden zu positionieren.
Christian Tiedemann sieht das allerdings mit gewisser Skepsis:
„Ich glaube, das Gros der Agenturen wird weiterhin Dienstleister sein. Wer glaubt, als kleine und mittlere Agentur ein strategischer Partner sein zu können, irrt oder leidet an Selbstüberschätzung.“
Zu einem Großteil kommt es sicherlich darauf an, inwieweit sich Full-Service-Agenturen bislang in der Zusammenarbeit mit deren Kunden als Marketingberater eingebracht haben. Manchen saust das Motto „Der Kunde ist König“ geradezu wie ein Mantra durch den Kopf – nur vergessen sie, dass sich kluge strategische Entscheidungen, die möglicherweise zunächst nicht den Wünschen der Kunden entsprachen, mittel- und langfristig durchaus zu deren Gunsten auswirken können.
Insofern sollten sich Full-Service-Agenturen mit ihrer Branchenexpertise, ihrer Erfahrung und ihren Daten aus ihrer Dienstleisterrolle hinausbegeben und, wo es angebracht erscheint, durchaus mal widersprechen und Haltung zeigen. In dieser Rolle als Marketingberater oder strategischer Sparring Partner können sich dank der Augenhöhe mit den Kunden neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit eröffnen, die das Profil einer Agentur bereichern und nachhaltig tragfähig machen.
Haben klassische Full-Service-Agenturen angesichts der fortschreitenden Digitalisierung und zunehmenden Komplexität ausgedient, und wie können (Agentur-)Modelle für einen ganzheitlichen und möglichst umfassenden Kundenservice aussehen?
Christian Tiedemann: “So radikal würde ich das nicht formulieren – die Frage ist eher, ob, wie schnell und wie konsequent sich die klassischen Full-Service-Agenturen transformieren können. Das Agenturmodell der Zukunft ist eher eine Plattform mit internen Experience Experten, die insbesondere führen, steuern und integrieren können, sowie externen Satelliten, die stetig wechselnde Skills addieren, aber auch flexibel ausgewechselt werden können. Full Service im tradierten Sinne ist tot.“
Damit kommt es also zukünftig, wie Tiedemann verdeutlicht, umso mehr auf kreative Agenturmodelle an, die sich flexibel auf ein Projekt einstellen lassen: Denn wenn Unternehmen verstärkt in digitale Technologien und Ressourcen investieren, bedeutet das bei gleichbleibendem Budget geringere Werbeausgaben. In den Fokus rücken daher neue Formen der Zusammenarbeit, die sich beispielsweise durch mehr Agilität, Transparenz und Beteiligung an den Workflows, modulare Teams sowie Kooperationen mit Freiberuflern verschiedener Disziplinen auszeichnen. Auf diese Weise können sich Full-Service-Agenturen selbst flexibilisieren und innovieren, Impulse einholen und weitergeben.
Agenturleben neu gedacht – stellt Corona Agenturen auf den Kopf?
Die Corona-Pandemie hat zu großen Umbrüchen im Arbeitsleben geführt, auch in Agenturen. Vor-Ort-Termine, Messebesuche, Netzwerkveranstaltungen und branchenspezifische Events haben sich, wenn überhaupt, ins World Wide Web verlagert. Für manche stehen inzwischen weniger Meetings auf der Agenda, was Raum für Experimente lässt. Warum also nicht auch intern schauen, wie sich die Zusammenarbeit mit Kunden optimieren ließe? Was braucht es wirklich? Was wäre sinnvoll?
Christian Tiedemann schätzt den Einfluss der Corona-Pandemie auf die Agenturbranche und die Zusammenarbeit mit Kunden so ein, dass sich das Verhältnis zukünftig eher remote abspielen wird.
„Remote ist ja schon lange möglich, durch Corona erst toleriert und jetzt flächendeckend akzeptiert. Unproduktive Zeiten wie Reisen verschaffen den Akteuren (private) Zeitgewinne. Aus meiner Sicht wird sich insgesamt die Balance zu Gunsten von Remote verschieben.“
Die Verlagerung auf Remote-Meetings und -Arbeit bedeutet jedoch nicht unbedingt eine minder enge Zusammenarbeit. Zum einen ist es für Agenturen wichtig, ihre Kreativität für neue Wege zu nutzen, sich selbst digital stark aufzustellen oder Dienstleister ins Boot zu holen, die Kunden in puncto maßgeschneiderter Digitalstrategien, KI-Nutzung oder auch Data-Mining kompetent zur Seite stehen.
Allein durch eine Erweiterung solcher Kompetenzen und Services lässt sich die Kooperation intensivieren. Zum anderen bieten digitale Tools Chancen, einen immer stärker werdenden Wunsch seitens der Kunden nach Mitwirkung zu realisieren und von überall aus dabei zu sein. Dies verlangt einen hohen Grad an Flexibilität – allerdings dürften Agenturen dahingehend bestens gewappnet sein.
Fazit: Full-Service-Agenturen tun gut daran, sich agil aufzustellen, Kooperationen mit Freelancern und anderen Spezialagenturen aufzubauen und sich in puncto digitaler Technologien sattelfest zu machen. Das alles wird aber erst durch die kreativen Leistungen ein überzeugendes Gesamtpaket ergeben, das Kunden anzieht und überzeugt.
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