Geschüttelt, nicht gerührt – wie Agentic AI bestehende Geschäftsmodelle neu mixt
Eine DMEXCO Kolumne von Thilo Kölzer, COO DocCheck AG, über Agentic AI, MCP und MPC und die Frage, wie autonome, lernfähige KI-Agenten Healthcare und Marketing neu mixen und bestehende Geschäftsmodelle umkrempeln.

Agentic AI: Der nächste große Schritt nach ChatGPT & Co.
Die KI ist im Mainstream angekommen, und gerade hatte man sich an die Arbeit mit ChatGPT, Perplexity & Co. gewöhnt, die ersten Erfolge erzielt und Verbesserungen im Büroalltag mithilfe von KI-Tools realisiert.
Schon steht der nächste Game Changer ins Haus: Agentic AI!
„Agentic AI“ bezeichnet KI-Systeme, die nicht nur auf Befehle und Prompts reagieren, sondern eigenständig Ziele verfolgen, Teilaufgaben planen und kontinuierlich aus ihren Handlungen lernen – vergleichbar mit einem digitalen Assistenten mit Entscheidungs- und Umsetzungskompetenz.
Im Healthcare-Sektor kann ein KI-Agent zum Beispiel eigenverantwortlich Patientendaten sichten, Diagnostikhypothesen generieren, geeignetes Fachpersonal konsultieren und sogar Therapievorschläge entlang der neuesten Studienergebnisse anpassen, während alle regulatorischen Vorgaben mitbedacht werden. Damit eröffnen sich enorme Potenziale für präzisere und schneller verfügbare Versorgung und für die Entlastung des medizinischen Personals.
MPC und MCP – die Revolution steckt in diesen beiden Abkürzungen
Was ist das „Model Context Protocol“ (MCP)?
Das „Model Context Protocol“ ist ein Framework oder Protokoll, das verwendet wird, um Kontextinformationen zwischen KI-Agenten zu definieren und auszutauschen. Außerdem regelt es die Zuständigkeit und die Interaktionen eines Agenten innerhalb eines größeren Agentensystems. Es handelt sich bei MCP um eine Art „Verständnishorizont“ für einen KI-Agenten. Klingt abstrakt, aber man kann sich das Ganze als Regelwerk oder Struktur vorstellen, innerhalb derer ein KI-Agent agiert und Entscheidungen trifft.
Warum ein solches Regelwerk wichtig ist?
Damit die KI-Agenten nicht chaotisch oder widersprüchlich handeln, braucht es einen standardisierten Rahmen – und genau den bietet das MCP.
Vergleichbar ist solch ein Protokoll mit „http“, dem „Hypertext Transfer Protocol“ – jeder kennt „http://www.webseitenadresse.de“. Es bietet einen standardisierten Rahmen für die Darstellung von Webseiten in einem Browser. Würde es diesen Rahmen nicht geben, würden Webseiten in jedem Browser anders oder auch mal gar nicht dargestellt.
Dieselbe Herausforderung, nämlich die der Standardisierung, besteht nun auch bei der Anwendung von Agentic AI und Künstlicher Intelligenz im Allgemeinen.
MCP-Beispiel: Agenten-Netzwerk für das Patienten-Entlassmanagement
Die Ausgangslage: Ein Krankenhaus nutzt ein System autonomer KI-Agenten für das Entlassmanagement. Ein KI-Agent prüft die Medikamentenverordnung, ein anderer koordiniert Pflegedienste, ein dritter kommuniziert mit dem Hausarzt. Diese Agenten müssen koordiniert handeln, um Widersprüche und Verwirrung unter den Beteiligten zu vermeiden.
Deshalb erhält jeder Agent über das MCP eine definierte Rolle sowie Informationen über den Zustand des Patienten und den Therapieplan. Wenn beispielsweise der Pflege-Agent erfährt, dass der entlassene Patient insulinpflichtig ist, aber auch leicht dement, organisiert er automatisch einen lokalen Pflegedienst.
Die beteiligten KI-Agenten tauschen über das Protokoll relevante Informationen aus, ohne Aufgaben doppelt zu bearbeiten oder zu kollidieren. Das Potenzial für die Entlastung des medizinischen Personals ist enorm – und das hier ist nur ein sehr einfaches, naheliegendes Beispiel.
Was verbirgt sich hinter der „Multi Party Computation“ (MPC)?
Die MPC ist ein kryptografisches Verfahren, das es mehreren Parteien ermöglicht, gemeinsam eine Berechnung auf ihren jeweiligen (vertraulichen) Daten durchzuführen, ohne diese Daten gegenseitig offenzulegen. Am Ende erhält jede Partei nur das Ergebnis – nicht jedoch die Daten der jeweils anderen.
Im Zusammenspiel mit mehreren KI-Agenten – also KI-Systemen, die autonom Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen können – wird MPC beispielsweise eingesetzt, um Datenschutz bei kollaborativen KI-Agenten zu gewährleisten, verteilte Entscheidungsprozesse sicher zu gestalten oder auch um vertrauliche Informationen zwischen KI-Agenten zu schützen, während sie gemeinsam Aufgaben bearbeiten und lösen.
Ein konkretes Beispiel: Mehrere Krankenhäuser wollen ein KI-Modell trainieren, welches Mammographien automatisch auswerten und so bessere Diagnosen ermöglichen kann. Jedes Krankenhaus hat viele Bilddaten, darf seine Patientendaten aber aus Datenschutzgründen nicht teilen. Mit MPC können die Daten zwar gemeinsam verarbeitet werden, jedoch ohne, dass sie offengelegt werden. Das KI-Modell wird dezentral trainiert, indem (verschlüsselte) Teilberechnungen für jedes Haus durchgeführt und schließlich zu einem gemeinsam trainierten Modell „zusammengefügt“ werden. Am Ende erhalten alle beteiligten Häuser das Ergebnis (z. B. ein trainiertes Modell) – nicht aber die Daten selbst. Durch die größere Datenbasis kann die Diagnosesicherheit dennoch deutlich verbessert werden.
KI-Agenten in Marketing-Kommunikation und Vertrieb
Für Marketing- und Vertriebsaktivitäten im Pharma- oder Medizintechniksektor ergeben sich ebenfalls Potenziale: Die Erfahrung zeigt, dass die Zusammenstellung von vertrieblichen Inhalten, die den Healthcare Professionals im „Verkaufsgespräch“ präsentiert werden und den Gesprächsverlauf kanalisieren sollen, eine sehr komplexe Angelegenheit sein kann, weil eine Menge unterschiedlicher, teils wissenschaftlicher Informationen komprimiert und auf den Punkt gebracht werden muss.
Mit einem passenden und speziell trainierten KI-Agenten könnte diese Aufgabe teilautomatisiert und deutlich beschleunigt werden. Der Hauptvorteil bestünde jedoch darin, für Qualitätsverbesserungen sorgen zu können – und zwar bei der inhaltlichen Aufbereitung sowie der situativen Adaption von Argumentationshilfen – je nachdem, wen man vor sich hat.
So könnte eine Agentic AI auf Basis klinischer Studien, Wettbewerbsinformationen und neuesten Erkenntnissen personalisierte Präsentationen erstellen, die sich während des Kundengesprächs in Echtzeit an Fragen, Einwände gegen eine bestimmte Therapie, Budgetrestriktionen oder sonstigen Spezifika von Gesprächspartnern anpassen und für einen optimalen Gesprächsverlauf sorgen könnten.
Auch die Vor- und Nachbereitung von Vertriebsmaßnahmen, z. B. im Hinblick auf HCP-Segmentierung, Content-Orchestrierung und Omnichanneling, wird sich stark verändern: Die KI analysiert Verordnungsdaten, CRM-Daten, Analytics, Kongressteilnahmen, Publikationen und vielleicht auch Patientenbewertungen von Arztpraxen, bildet daraufhin Mikrosegmente und spielt passgenaue E-Mails, Landingpages, CME-Module, eDetailer-Charts oder Webinar-Einladungen aus. Öffnet eine Neurologin zum Beispiel ein Whitepaper häufiger als Videos, passt der KI-Agent seinen Kanal-Mix eigenständig an.
Agentic AI: Turbo für das Marketing der Zukunft
Meine Prognose ist, dass sich in den nächsten 24 Monaten das komplette Marketing, von der Produktentwicklung bis hin zur Kommunikation, einmal komplett umwälzen wird – mithilfe der „normalen“ KI, aber vor allem durch Agentic AI, die als „Marketing-Helferlein“ kontrolliert selbständig agieren und das Marketing insgesamt auf ein bisher nicht gekanntes Niveau heben werden.
Ob das gut oder schlecht ist, werden letztendlich die Zielgruppen entscheiden. Es eröffnen sich zumindest enorme Potenziale für eine hyper-personalisierte und hyper-relevante Kommunikationswelt.