Relevanz im Marketing neu denken – von KI bis personalisierte Kommunikation

Eine DMEXCO Kolumne von Evgeny Popov über Relevanz als Schlüsselfaktor im Marketing – neu gedacht durch Kognitionswissenschaft und AGI.

Relevanz im Marketing: Nachbildung der Skulptur „Der Denker“ aus rosa Bausteinen, sitzend auf einem Block vor farbigem Verlaufshintergrund.
Bild: © textbest |Canva Pro

Relevanz erkennen: Wie Kognitionswissenschaft und AGI das Marketing neu denken lassen

In meinem Beitrag „Die Zukunft der Künstlichen Allgemeinen Intelligenz zwischen Ethik und Einfluss“ habe ich Artificial General Intelligence (AGI) als technologischen Quantensprung einerseits und ethische wie strategische Herausforderung andererseits beschrieben. Anknüpfend daran habe ich mich seither intensiv mit dem Kognitionsforscher Dr. John Vervaeke und seinem Kurs „Introduction to Intelligence“ beschäftigt, einer vielschichtigen Synthese aus Neurowissenschaften, Philosophie, KI und Kognitionswissenschaft. Ein zentrales Konzept zieht sich dabei durch alle Disziplinen: Die Identifikation von Relevanz im Marketing – also die Fähigkeit, in einem bestimmten Kontext das Wesentliche zu erkennen und vom Unwesentlichen zu trennen. Diese Fähigkeit zur Selektion bildet nicht nur die Grundlage menschlicher Intelligenz, sondern auch den Kern von Aufmerksamkeit, Bedeutung und Handlung.

Im Marketing jedoch fehlt bislang genau ein solches kognitives Betriebssystem.

Intelligenz ist mehr als Datenverarbeitung

Allzu häufig wird Intelligenz – sei es beim Menschen oder bei der Maschine – mit Rechenleistung, Speicherkapazität oder Geschwindigkeit gleichgesetzt. Doch in komplexen bis hochkomplexen Zusammenhängen greift diese Sichtweise zu kurz. Wirkliche Intelligenz zeigt sich nicht in dem Volumen abrufbar gespeicherter Informationen, sondern in der Fähigkeit zu erkennen, welche dieser Informationen relevant sind – kontextsensitiv, dynamisch und zielgerichtet. Gerade in offenen, unstrukturierten Entscheidungssituationen – wie sie in der Realität vorherrschen – entscheidet genau dieser Mechanismus über Handlungskompetenz.

 

Im Marketing haben wir ein Jahrzehnt lang Systeme um Datenmengen herum gebaut – in der Hoffnung, damit klügere Entscheidungen zu treffen. Was wir stattdessen erreicht haben, ist ein hoher Automatisierungsgrad bei gleichzeitig geringem Differenzierungsvermögen. Das Versprechen des datengesteuerten Marketings – die richtige Botschaft zur richtigen Zeit an die richtige Person auszuliefern – scheitert nicht an der Technik, sondern am Bedeutungsgehalt: Solange ein System nicht versteht, warum etwas relevant ist, bleibt jede Individualisierung oberflächlich.

Und damit laufen wir Gefahr, Relevanz im Marketing nicht zu identifizieren, sondern weitestgehend selbstreferenziell zu konstruieren – und so nicht zu optimieren, sondern letztlich zu simulieren.

Die Identifikation echter Relevanz: Der Mechanismus hinter der Aufmerksamkeit

Das Konzept der Relevanzidentifikation verbindet Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Kognitionsforschung und KI. Es beschreibt den dynamischen Prozess, mit dem biologische wie künstliche Systeme ihre Umwelt erfassen. Und dies tun sie gerade nicht, indem sie alles um sich herum registrieren, sondern indem sie systematisch das Unwesentliche ausblenden, um so erst das Wesentliche erkennen zu können. Dabei handelt es sich nicht um einen starren Algorithmus, sondern um einen kontextsensitiven, rekursiven Mechanismus, der ständig neu angestoßen wird – gelenkt durch Aufmerksamkeit, geprägt durch Erfahrung und verankert im Gedächtnis. Man könnte sagen: Intelligenz zeigt sich als Bewegung im Kontext.

Für das Marketing bedeutet dies, dass es nicht mehr reicht, bloß Aufmerksamkeit zu erlangen. Es geht darum, als relevant wahrgenommen zu werden. Und das stellt das klassische Modell der Zielgruppenansprache infrage: Statische Identitäten, demografische Filter oder vergangenheitsbezogenes Verhalten genügen nicht mehr.

Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Was macht eine Botschaft genau in dem Moment relevant, in dem sie empfangen wird – und wie erzeugt man Relevanz im Marketing, die über Oberflächenmerkmale hinausgeht?

Dabei geht es nicht mehr allein um Individualisierung – es geht um die Wahrnehmung von Framing, von Affordanzen, also dem Angebot potenzieller Handlungsmöglichkeiten für Nutzer:innen, und von Kontext. Erst an diesem Punkt beginnt echte Intelligenz.

Aufmerksamkeit ≠ Impressionen

Die knappe Ressource Aufmerksamkeit ist kein Scheinwerfer, der gleichmäßig die gesamte Szenerie ausleuchtet. Aufmerksamkeit generiert Relevanz. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten, tun wir mehr als nur hinzusehen: Wir filtern aus einer Flut von Informationen gezielt das heraus, was Bedeutung für uns haben könnte – als Rahmen für unsere Handlungsmöglichkeiten.

Diese Sichtweise auf das Wesen von Aufmerksamkeit hat tiefgreifende Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir Medienwirkung messen könnten – und sollten.

 

Bislang wurde Aufmerksamkeit in der AdTech-Branche weitgehend auf der Impressionsebene quantifiziert. Doch eine echte Aufmerksamkeitsökonomie verlangt ein Umdenken – weg von reiner Sichtbarkeit und hin zur kognitiven Qualität. Metriken wie Sichtbarkeit oder Verweildauer mögen notwendige Voraussetzungen sein, sind aber keine hinreichenden Indikatoren. Es geht eben nicht nur darum, ob eine Anzeige gesehen wurde, sondern darum, ob sie als relevant wahrgenommen wurde.

Tatsächlich könnte die Fähigkeit zur Relevanzidentifikation genau das sein, was uns erklärt, warum Kampagnen in einem bestimmten Kontext wirken und in einem anderen nicht. Warum emotionale Botschaften bei einem Segment Resonanz erzeugen – und bei einem anderen verpuffen. Die einfache Wahrheit ist: Aufmerksamkeit allein sagt wenig aus. Erst Relevanz verleiht ihr Bedeutung.

Relevanz im Marketing: Schaubild mit fünf Ebenen der Relevance Realization: Salience, Coherence, Anchoring, Valence, Significance.
Bild: © Evgeny Popov

Marketing als angewandte Intelligenz

Überträgt man die Erkenntnisse zur Relevanz auf das Marketing, lässt sich jede Kampagne als eine Form kognitiver Intervention verstehen – als Versuch, die mentalen Modelle der Konsument:innen gezielt zu beeinflussen. Ziel ist es dabei nicht nur, im Gedächtnis zu bleiben, sondern den empfundenen Relevanzwert nachhaltig zu erhöhen. Damit verschiebt sich die Rolle des Marketings: Weg von der reinen Informationsvermittlung und hin zur zielgerichteten Gestaltung von Affordanzen – der Schaffung eines Handlungsangebots, das sinnvoll auf individuelle Ziele, Bedürfnisse und Kontexte abgestimmt ist.

In dieser Perspektive orientiert sich Marketing an der Theorie der verteilten Kognition – der Annahme, dass Denken nicht nur im Kopf des Einzelnen (oder innerhalb eines einzelnen Geräts), sondern weit darüber hinaus in der Interaktion zwischen Menschen, Werkzeugen und Umgebungen stattfindet. Die Anzeige selbst wird so zur kognitiven Einladung, die im Kopf der Empfänger:innen einen Bedeutungszusammenhang auslöst oder diesen verändert. Und genau dies könnte die Rolle künstlicher allgemeiner Intelligenz in der Zukunft sein – AGI nicht als starre Form der Intelligenz, sondern als dynamische, adaptive Schnittstelle zur Bedeutungsbildung.

Intelligenz und Kampagnenwirkung: Das EARO-Modell

Um die bisherigen Überlegungen auf ein praxisnahes Modell zu übertragen, lohnt sich ein Blick auf John Vervaekes Synthese aus prädiktiver Verarbeitung und Relevanzidentifikation. Sie lässt sich als strukturierendes Prinzip auf zentrale Herausforderungen im Marketing übertragen – von Sichtbarkeit (Erreichen der Zielgruppe) und Antizipation (Vorhersage von Trends) über Auffälligkeit (Durchbrechen des Rauschens) zu echter Wirkung. Damit lautet der vierdimensionale Bewertungsrahmen: Exposure, Attention, Relevance, Outcome – oder kurz: EARO (gesprochen wie „Hero“). Dieses Modell ermöglicht es, Intelligenzmechanismen in strategische Metriken für das Marketing zu übersetzen – im Einzelnen:

  • Exposure (kontextuelle Exposition):
    AGI-gestützte Systeme analysieren in Echtzeit Web Traffic, Trends auf X und kontextbezogene Signale, um Kampagnen dort auszuspielen, wo sie maximale Sichtbarkeit, Zielgruppenpassung und Engagement-Tiefe erreichen. Die Kampagne wird so im richtigen Moment, im richtigen Kontext und auf dem richtigen Kanal platziert.
  • Attention (prädiktive Verarbeitung): Durch die Verarbeitung kognitiver Muster – etwa aus Suchverläufen, Posts auf X oder biometrischen Signalen – antizipiert AGI bestehende Erwartungen und reduziert Überraschungseffekte. Die Botschaft wird damit nicht nur wahrgenommen, sondern als kohärent und anschlussfähig erlebt.
  • Relevanz (Relevanzidentifikation): Das System bewertet die Relevanz einer Botschaft situativ – es balanciert zwischen Allgemeingültigkeit und Spezifität und erkennt, ob eine Aussage im Moment der Interaktion tatsächlich Bedeutung stiftet. Es vermeidet sowohl Überinformation als auch Trivialisierung und bringt das Richtige zur richtigen Zeit – und ermöglicht damit kontextuelle Relevanz im Marketing.
  • Outcome (kollektive Intelligenz): Wirkung entsteht nicht allein durch technische Präzision, sondern durch verteilte Kognition. AGI-Systeme ermöglichen Co-Creation durch die Zusammenarbeit mit dem Menschen und dessen Kreativität, integrieren Konsument:innen-Feedback, und passen Inhalte adaptiv an. Kampagnen werden so gemeinsam weiterentwickelt – als kollektive Erzählungen mit messbarer Wirkung.

Hinterlegt mit den entsprechenden Metriken können diese vier Dimensionen Wirkung zutreffend quantifizieren – über herkömmliche Kennzahlen wie Impressionen weit hinausgehend: So kann die Exposition die kontextuelle Passgenauigkeit messen – wie gut eine Kampagne zur aktuellen Situation der Zielgruppe passt. Aufmerksamkeit bewertet die prädiktive Anschlussfähigkeit – wie exakt Inhalte mit Erwartungen und mentalen Modellen übereinstimmen. Relevanz erfasst den Affinitätsindex – inwieweit eine Botschaft Zugehörigkeit, Identifikation oder Interesse erzeugt. Outcome schließlich spiegelt die Geschwindigkeit von Co-Creation wider – wie schnell und intensiv das Publikum in die Bedeutungsgenerierung einsteigt, indem es eine Botschaft annimmt und adaptiert. Damit würde sich der Fokus von klassischen KPIs hin zu dynamischen, kontextsensitiven Parametern verlagern. EARO erlaubt es, Wirkung nicht nur zu messen, sondern nachhaltig intelligent zu steuern – eine entscheidende Voraussetzung für Marketingstrategien, die in fragmentierten digitalen Ökosystemen nachhaltig Wirkung entfalten wollen.

AGI, Medien und die Zukunft der Relevanz im Marketing

Wenn AGI ihrem Anspruch gerecht werden soll, über eine wirklich allgemeine Intelligenz zu verfügen, muss sie jene Fähigkeit beherrschen, die den Kern menschlicher Flexibilität ausmacht – die Identifikation von Relevanz im Marketing. Ohne diese Fähigkeit kann keine KI adaptiv und kontextsensitiv und damit auch erst wirklich intelligent agieren. Große Sprachmodelle wie GPT-4 kommen dieser Fähigkeit schon recht nahe, indem sie dynamisch und mit hoher Präzision Wortfolgen voraussagen, die im jeweiligen Kontext am wahrscheinlichsten erscheinen. Doch dies ist noch keine echte Relevanzerkennung – es ist statistische Annäherung, keine semantische Einsicht.

Unser mediales Ökosystem, das zunehmend von KI durchdrungen ist, dem aber eine Theorie der Aufmerksamkeit fehlt, agiert so, als wäre Bedeutung – im Sinne von Erheblichkeit – gleichbedeutend mit Größe. Doch das ist ein Trugschluss. In Wirklichkeit gilt: Größe ohne Relevanz ist nur Rauschen.

Für Marketer:innen ergibt sich daraus eine strategische Konsequenz: Künftig wird der Wettbewerb nicht durch schiere Reichweite oder Wiedererkennung entschieden, sondern durch kontextuelle Präzision. Die entscheidende Frage lautet nicht mehr: „Wer sieht das?“, sondern: „Warum wird genau dies als bedeutsam erlebt?“. Wer kreative Strategie, Mediaplanung und Echtzeitoptimierung konsequent an Relevanz ausrichtet – statt bloß an Impressionen – wird all jene übertreffen, die sich weiterhin an Volumen-Metriken festhalten.

Grafik zur Relevance Realization mit fünf Ebenen. Vom Reiz bis zur bewussten Handlung durch Informationsfilterung.
Bild: © Evgeny Popov

Ein neuer Blick auf das Marketing: Relevanz als systemisches Feedback

Zeit, die bisherigen Überlegungen zusammenzuführen.

Wenn Intelligenz die dynamische Lösung unklarer Probleme bedeutet – etwa der Frage: „Was ist gerade in diesem Moment wichtig?“ –, dann sollten wir Werbung neu denken: als systemische Feedbackschleife zur Relevanzidentifikation. Jeder Kontakt, jedes Engagement, jede Conversion ist dabei nicht bloß ein Touchpoint, sondern ein Test auf Auffälligkeit in einer sich ständig wandelnden Aufmerksamkeitsökonomie.

Was wäre, wenn wir Anzeigen nicht länger als starre Botschaften betrachten würden, sondern als Affordanzen – als Möglichkeitsräume zur Bedeutungsbildung im jeweiligen Kontext?

Was wäre, wenn wir Medien und Kampagnen nicht länger nur an ihrer Reichweite oder ihrem Lift messen würden, sondern an ihrer Fähigkeit, Relevanz im Marketing zu erzeugen – sie zu formen, zu reflektieren und in Echtzeit weiterzuentwickeln?

Und was wäre, wenn wir KI nicht nur als Vorhersageinstrument einsetzen würden, sondern als kognitiven Partner im kreativen Prozess – um die Dynamik von Aufmerksamkeit zu verstehen, zu gestalten und strategisch zu begleiten?

Hin zu einer Ökologie der Intelligenz – und zu echter Relevanz im Marketing

Intelligenz – insbesondere allgemeine Intelligenz – kann nicht auf rein individueller Ebene oder bezogen auf Rechenleistung verstanden werden. Intelligenz ist ein ökologisches Phänomen. Sie entsteht durch Interaktion, Kontext und rekursives Lernen.

Als integrierendes und resonantes System muss auch das Marketing ökologisch gedacht werden. Und da wir uns in einem Spannungsfeld bewegen, in dem AGI, synthetische Medien und menschliche Kognition zunehmend engmaschig ineinandergreifen, sollten wir Systeme schaffen, in denen es nicht um das punktuelle Erhaschen von Aufmerksamkeit geht, sondern in denen Aufmerksamkeit immer wieder aufs Neue verdient wird – durch den dynamischen Prozess der Identifikation von Relevanz im Marketing.

Im Zeitalter der AGI ist Aufmerksamkeit nicht das Ziel. Sie ist die Bühne. Und Intelligenz – ob menschlich oder maschinell – zeigt sich erst darin, wie wir uns auf dieser Bühne bewegen.

Genau an diesem Schnittpunkt liegt die Herausforderung für Marketer:innen. Wir müssen die Entwicklung von AGI so gestalten, dass sie uns in unserer Menschlichkeit unterstützt – und gleichzeitig Relevanz im Marketing als strategische Leitlinie etabliert.

Die Worte von John Vervaeke klingen nach: „Intelligenz ist die rekursive Identifikation von Relevanz – ein Prozess, der von partizipatorischem zu propositionalem Wissen führt. Und wieder zurück.“

Im Marketing könnte genau dieser rekursive Prozess – vom Erleben zur Erkenntnis und zurück – unser größtes Kapital sein. Denn in einer datengetriebenen Werbewelt ist Relevanz im Marketing der wahre Differenzierungsfaktor.

Nutzen wir ihn mit Bedacht.