Arzt per App: Die Zukunft der Medizin?

Digital Health ist in aller Munde - vom digitalen Fitnessplan bis zum digitalen Besuch beim Arzt per App.

Dermanostic-Co-Gründerin Dr. med. Alice Martin spricht im DMEXCO Interview über den digitalen Arztbesuch und die Zukunft der Telemedizin.
Bild: © Dermanostic

DMEXCO Interview mit Dermanostic-Co-Gründerin Dr. med. Alice Martin

Seit der Gründung im Jahr 2019 wurden über 100.000 Patient:innen in der digitalen Hautarztpraxis Dermanostic behandelt. Wir haben Co-Gründerin Dr. med. Alice Martin zum Interview getroffen und mit ihr nicht nur über den Erfolg der Hautarzt-App gesprochen, sondern auch über ihre persönliche sowie professionelle Sicht auf die Zukunft der Telemedizin.

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Bild: © Dermanostic

Hautarzt per App: Wie ist die Idee zu Dermanostic entstanden?

Das Schöne ist, dass es gar keine Idee war, die wir uns konkret überlegt haben im Sinne von „Was können wir denn machen?“. Es begann damit, dass unsere Freunde, Freundesfreunde und Familienmitglieder uns, also meiner Freundin und später ebenfalls Dermanostic-Co-Gründerin Dr. Estefanía Lang und mir, immer wieder über WhatsApp Bilder geschickt haben. Immer wieder Thema: Ich bekomme keinen Termin vor Ort, ich habe einen Hautausschlag, ich brauche jetzt dringend Hilfe. Dadurch, dass wir als Ärztinnen in einer Hautklinik tätig waren und jeder das wusste, war das ein ganz schneller Weg und wir konnten tatsächlich fast immer eine Diagnose stellen. Das war es dann aber auch schon.

Denn: Wir konnten kein Rezept ausstellen, es war nicht standardisiert, die Bilder werden runtergerechnet. Und dann haben wir uns überlegt, es wäre doch schön, etwas zu erschaffen, wo jeder Mensch uns kontaktieren kann – und nicht nur uns, sondern eben viele andere Ärztinnen und Ärzte, die sich dann darauf spezialisieren. Ja, und so haben wir es dann gemacht.

Wie funktioniert Dermanostic?

Dermanostic ist eine digitale Hautarztpraxis – eine Praxis per App. Das bedeutet, dass es ganz normal über den App Store oder Google Play Store runtergeladen werden kann. Im Anschluss werden in der App Bilder von der Haut-, Haar- oder Nagelveränderung für unser Team hochgeladen und unsere Ärztinnen und Ärzte erstellen dann einen Arztbrief mit Diagnose, Therapieempfehlung sowie einem Privatrezept. Das alles passiert innerhalb kürzester Zeit – in der Regel unter 24 Stunden. Die Behandlung findet rein digital statt, auch an Feiertagen oder am Wochenende. Das alles funktioniert ohne Terminvereinbarung rein auf dem Bild-Text-Verfahren.

Wer ist eure Zielgruppe?

Unsere Zielgruppe ist tendenziell jede Person, die ein Smartphone besitzt und Internetzugang hat. Eigentlich wollten wir die Menschen erreichen, die aus verschiedensten Gründen keinen Termin vor Ort bekommen. Wir wollten ebenso die Menschen erreichen, die immobil aufgrund körperlicher Einschränkungen sind oder in einem Umkreis von 100 Kilometern keine:n Hautärzt:in haben. Wir wollten die Menschen erreichen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst einzustehen, beispielswiese in Altenheimen oder in Pflegeeinrichtungen. Das ist unser Ansatz. Aktuell hat unsere Patientengruppe im Schnitt ein Alter um das 30. bis 40. Lebensjahr. Wir haben viele jüngere Menschen, wir haben aber auch viele ältere, die sich Dermanostic von ihren Enkelkindern einstellen lassen. Gleichzeitig behandeln wir viele Neugeborene, 1-Jährige, 2-Jährige, deren Eltern mit uns in Kontakt treten. Sicherlich starten wir bei den Digital Natives, aber es wird langsam in die breite Masse übergehen.

Was unterscheidet Dermanostic von anderen Apps?

Uns unterscheidet zum einen, dass wir ärztlich gegründet sind. Zum anderen haben wir einen von A bis Z sehr persönlichen Ansatz gewählt. Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt. Wir machen bei Instagram und TikTok Beiträge und sind sehr interessiert daran, aufzuklären und in Interaktion zu treten. Der Besuch in unserer Hautarztpraxis soll sich cool anfühlen statt des unangenehmen Ich-bin-krank-Gefühl. Es gibt so viele schöne Behandlungen wie der Friseurbesuch, warum sollte nicht der Besuch bei einem Arzt oder einer Ärztin ebenso mit etwas Schönem verbunden sein? Genau in diese Richtung wollen wir es drehen, nämlich: „Hey, es ist okay, dass es dir gerade nicht gut geht. Schön, dass du da bist. Wir fangen dich jetzt erst einmal auf und bringen dich wieder in die richtige Bahn. Und das macht aber auch Spaß.“ Und diese Patienten-Journey ist es, die uns auszeichnet und von anderen Apps abhebt.

Apropos Instagram und TikTok – wie verändert Digitalität die gesundheitliche Aufklärung?

Ich glaube, im Zeitalter der Digitalisierung haben wir die Möglichkeit einer umfangreicheren Aufklärung, einer absoluten Transparenz und einer Nachvollziehbarkeit. Ein Beispiel aus meiner Zeit in der Hautklinik: Zu uns sind Patient:innen mit Hautproblemen gekommen. Gerade in der Ambulanz gab es keinen Arztbrief, sondern lediglich ein Rezept. Viele Menschen sind nach Hause gegangen und haben sich gefragt, was habe ich jetzt eigentlich? Soll ich die Creme zweimal am Tag auftragen? Kann ich jetzt ins Schwimmbad gehen? Oder kann ich ein Handtuch noch mit jemandem teilen? Die Antworten auf all diese Fragen wurden – trotz persönlichem Kontakt – nicht (immer) transparent geklärt. Mit Dermanostic nehmen wir dieses persönliche Gefühl vermeintlich erst mal weg, weil wir keinen Blickkontakt haben. Gleichzeitig schaffen wir eine unfassbare Aufklärung und geben den Personen, die bei uns sind, Eigenverantwortung. Viele schreiben uns beispielsweise, dass in ihrem Arztbrief steht, dass es jucken kann, sie aber gar keinen Juckreiz haben. Wir merken, wie sehr die Menschen sich mit ihrer Diagnose beschäftigen, den Arztbrief lesen, sich informieren, weitere Recherchen mit uns teilen und sogar vorbereitet zu uns kommen. Das finde ich ganz außerordentlich. Von daher glaube ich, Digitalisierung, sofern es richtig gelebt wird, ist eine unfassbare Ergänzung, teilweise sogar ein Ersatz. Kombiniert mit Vor-Ort-Behandlungen schaffen wir unfassbar starke Synergie. Und digital entfällt der Zeitfaktor: Wir können den Menschen am Wochenende und ganz bequem zu Hause helfen. Gleichzeitig entfällt der Small-Talk und es geht um pure Medizin. Und das ist auch schön für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte.

Und bei den Patient:innen kommt es gut an, wie die Bewertungen beweisen. Ist Telemedizin die Zukunft?

Telemedizin ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich habe einen unfassbaren Respekt vor der Tätigkeit der niedergelassenen Ärzt:innen – egal ob in der Klinik oder in der Praxis. Aber unser System braucht eine Veränderung und deswegen gibt es die Digitalisierung. Wenn wir es nicht brauchen würden, würde es ja nicht angenommen werden. Und wir sehen ja, am Ende setzt sich das durch, was sinnvoll ist. Das ist wie die natürliche Selektion. Von daher gehe ich noch ein Stück weiter: Wir brauchen von der Gesetzgebung noch mehr Möglichkeiten, noch mehr Spielraum, dass unsere Leistung erstattet wird, dass sie besser zugänglich wird und dass vielleicht auch diejenigen, die in der Praxis tätig sind, eines Tages sagen: „Hey, ich möchte auch hybrid arbeiten, ich möchte auch Homeoffice machen können.“ Und ganz ehrlich, ich muss selbst als Patient:in nicht jedes Mal vor Ort sein, um einen Befund zu besprechen. Ich glaube, dieses Thema wird auch politisch in Zukunft noch viel aktiver angegangen, denn aktuell ist vieles noch eine privatärztliche oder Selbstzahlerleistung.

Ist Telemedizin grenzenlos?

Telemedizin hat Grenzen – aber alles, was von außen sichtbar ist, also Haare, Nägel, Augen, sogar Zähne lassen sich gut behandeln. Was ich persönlich schade finde, ist, dass bei der Telemedizin zum Teil die ganzheitliche Betrachtung entfällt. Wenn ein Mensch in die Praxis kommt, dann kann ich viel sehen. Wie ist der Gang? Wie ist die Energie? Ist der Blick demotiviert oder depressiv? Wie ist die Kleidung? Ist die Person gepflegt oder nicht? Wie sehen die Nägel aus? Bei unseren Bildern achten wir deshalb auf Alternativen. Was ist im Hintergrund? Ist es aufgeräumt, ist es unaufgeräumt? Wie sieht die sonstige Haut aus? Wie schreibt die Person? Schreibt sie mit Mikro-Aggression, schreibt sie verzweifelt? Kurz: Wir achten eben auf andere Informationen, um dieses Gesamtbild herzustellen. Und eine wichtige Frage bei uns ist auch: „Was machen Sie beruflich?“ Das fragen wir, um in unserem Kopf imaginär die Person zu erschaffen, um zu wissen, mit wem spreche ich hier eigentlich, wen behandele ich hier? Das ist ganz, ganz spannend, denn früher habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht – mittlerweile ist es unfassbar relevant für uns geworden.

Inzwischen habt ihr über 100.000 Patient:innen nach dem Prinzip Arzt per App behandelt. Wie fühlt sich das an?

Wenn ich mir das richtig vor Augen führe, dann bin ich überwältigt – wirklich überwältigt. Und wenn ich zu viel darüber nachdenke, werde ich emotional. Denn es ist so gewachsen, es ist entstanden. Ich kenne viele Menschen nicht, aber viele Menschen kennen Dermanostic. Ich bin so stolz, mit meinem Team so viel Positives zurückgeben zu können. Mein Wunsch ist es, dass jeder und jede weiß, dass es uns gibt, und der Arzt per App eine echte Möglichkeit für sie oder ihn ist, sofern nicht anders geholfen werden kann. Das wäre für mich unfassbar schön. Ich bin jedoch auch jetzt schon sehr, sehr dankbar.