Was wir in der DMEXCO Masterclass „Digitale Gesundheit 2030“ gelernt haben
In der Theorie ist es einfach: Das Gesundheitssystem sollte allen Menschen zugutekommen, modernsten Ansprüchen genügen und gleichzeitig nachhaltig und bezahlbar sein. Die praktische Ausgestaltung dieser Vision ist jedoch hochkomplex. Der BVDW hat einen Entwurf vorgelegt, wie „Digitale Gesundheit 2030“ aussehen sollte und erreicht werden kann.
Mit dem Leitfaden „Digitale Gesundheit 2030“ veröffentlichte der BVDW eine umfassende Analyse, die von der gegenwärtigen Lage ausgeht und ein Gesundheitssystem entwirft, das schon in zehn Jahren Realität sein könnte und den verschiedensten ökologischen, politischen und pragmatischen Ansprüchen gerecht wird.
DMEXCO Masterclass des BVDW: „Hacking Healthcare – Digital Health 2030“
Im Rahmen der DMEXCO 2021 lud der BVDW zu einer Masterclass. Die Autor:innen von „Digitale Gesundheit 2030“ diskutierten die verschiedensten Bereiche ihrer Vision vom Gesundheitswesen der Zukunft.
Digitale Gesundheit 2030: Hier geht es zur BVDW-Masterclass auf der DMEXCO 2021
Eine der wichtigsten Thesen lautete dabei: Der derzeitige Fokus auf die Krankenversorgung wird sich hin zu einer aktiven Gesundheitsgestaltung verschieben. Wir haben uns im Anschluss der DMEXCO mit Dr. Florina Speth, Referentin Digital Health Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V., Diana Jansen, Geschäftsführerin, CoVital 20 UG, sowie Ronny Köhler, Consultant wdv Gesellschaft für Medien & Kommunikation mbH & Co. OHG, unterhalten. Sie erklären, wie die Corona-Pandemie die Digitalisierung vorantreibt, welche wichtigen Trends schon jetzt erkennbar sind und in welcher Form robotische Systeme helfen werden.
„Die Gestaltung des digitalen Wandels in der Gesundheit kommt in Deutschland nur schleppend voran“, heißt es in einer Studie der Bertelsmann Stiftung. Warum hinkt Deutschland so hinterher?
Dr. Florina Speth: Derzeit liegt der Fokus noch auf der Absicherung des Status quos und zeitgleich werden die zentralen Herausforderungen der Gegenwart ausgeblendet. Die Frage sollte vielmehr heißen: Wo streben wir hin? Den Status quo abzusichern, kann für deutsche und europäische Gesundheitssysteme kein nachhaltiges Ziel sein. Vielmehr muss mit einem mutigen Sprung ein neues Niveau in den Blick genommen werden, das für weite Teile der Bevölkerung erstrebenswert ist und breite Zustimmung findet.
Dies ist umso schwieriger, als dass das vorhandene Versorgungssystem im internationalen Vergleich außerordentlich gut ist, insbesondere im Vergleich zu Märkten wie Indien, Afrika und China, wo digitale Lösungen oftmals die einzige Alternative zur Unterversorgung darstellen. Es muss uns gelingen, ein neues Denken zu etablieren, von der Gesundheitsgestaltung bis zur letzten Phase des Lebens, einschließlich neuer technologischer Möglichkeiten. Damit sind folglich verknüpfte Möglichkeiten eines gesunden und an Lebensqualität ausgerichteten Systems voranzutreiben. Ob dieser Weg von Evolution oder in manchen Bereichen doch von Disruption und Revolution geprägt sein wird, ist ungewiss.
Gewiss ist aber, dass bei einer Verweigerung der Möglichkeit selbstbestimmter Gesundheitsgestaltung aufgrund des internationalen Wettbewerbs Änderungen von außen ohne eigenen Einfluss übergestülpt werden. Dies wäre auch insofern bedauerlich, als die rohstoffarme Exportnation Deutschland einen neuen Markt für digitale Gesundheitsprodukte und -leistungen hätte erschaffen können, wenn die Messlatte höher gelegt worden wäre.
Haben die Erfahrungen der letzten Monate im Zeichen der Corona-Pandemie entscheidend dazu beigetragen, dass sich das ändern wird?
Diana Jansen: Ja, definitiv. Es besteht so gut wie kein Erklärungsbedarf mehr hinsichtlich der Notwendigkeit der Digitalisierung des Gesundheitssektors. Kommunikation im Gesundheitswesen findet seit Pandemiebeginn fast ausschließlich via Videokonferenz, Chat oder E-Mail etc. statt, und dies wird sich höchstwahrscheinlich auch über den Pandemiezeitraum hinaus flächendeckend durchsetzen. Arztkonsultationen via Videokonferenz sowie die interne Kommunikation in Kliniken und dem gesamten Gesundheitswesen erfuhren durch den Wegfall persönlicher Treffen einen starken Auftrieb und haben somit der Digitalisierung im Gesundheitsbereich einen intensiven Schub gegeben. Aufgrund dessen haben Kliniken, Arztpraxen und etliche weitere Institutionen des Gesundheitssektors zwangsläufig in die Verstärkung der Digitalisierung investiert bzw. bis dato nicht vorhandene digitale Infrastrukturen neu aufgebaut.
„Dennoch hinkt Deutschland im internationalen Vergleich weiterhin hinterher.“
Investition sind mit äußerst umständlicher und hinderlicher Bürokratie verbunden. Schnellere Prozesse und Bürokratieabbau sind deshalb notwendig, um nicht den globalen Anschluss zu verlieren – aber auch die Risikobereitschaft, Investitionen hinsichtlich digitaler Produkte im Gesundheitssektor überhaupt zu tätigen. Hierzu bleibt auch abzuwarten, wie sich die politische Landschaft in Deutschland nach der Bildung einer neuen Regierung verändert und ob das Bewusstsein der Politik in Bezug auf die Digitalisierung der Gesundheitslandschaft gleichermaßen geschärft wird.
Es gibt zahlreiche innovative Ideen und Start-ups im Health-Bereich. Welche Ideen sind besonders spannend?
Ronny Köhler: Hier möchte ich zwei Ideen anführen, bei denen Digitalisierung tatsächlich eine nutzenstiftende Veränderung bewirkt und nicht nur eine „Elektrifizierung” analoger Prozesse darstellt. Da wäre die neue Möglichkeit der Direktabrechnung von Rezepten zwischen Vor-Ort-Apotheken und Krankenkassen zu nennen. Damit wird bereits beim Besuch der Apotheke, im Gespräch zwischen Patient:innen und Apotheker:innen klar, ob das vorgelegte Rezept von der Kasse erstattet wird. Das klingt simpel, dauert mit dem bislang üblichen Vorgehen jedoch Wochen und Monate. Weil die Apotheker:innen nun sicher vor Retaxationen sein kann, werden dnm Patient:innen Wartezeiten und Wege erspart. Zudem entlastet die Lösung Krankenkassen personell. Bei jährlich 750 Millionen abzurechnenden Rezepten eine Lösung mit enormer Tragweite die – sollte das E-Rezept irgendwann tatsächlich kommen – noch mehr Bürokratie abbauen hilft.
Ein anderes Beispiel ist die Idee, autonom und frei agierende mobile Roboter in der stationären Reha so einzusetzen, dass sie von Patient:innen „angesprochen“ werden können. So werden therapeutische Maßnahmen, wie beispielsweise Gangtraining zur Mobilisierung nach OPs für Patient:innen genau dann verfügbar, wenn es für sie passt, und nicht mehr ausschließlich dann, wenn es der Dienstplan der Therapeut:innen vorsieht. Somit wird der Roboter künftig zum geschätzten Kollegen, der das medizinische Personal von Routinearbeit entlastet – insbesondere auch, was die aufwendige Dokumentation der Trainings angeht.
Viele Menschen haben Angst vor der Vorstellung eines digitalen Gesundheitssystems. Wie sieht die Vision des BVDW aus? Werden künftig Roboter unsere Kranken pflegen?
Dr. Florina Speth: In meinen Augen sollte man eher Angst davor haben, dass sich das Gesundheitssystem nicht schnell genug und nachhaltig digitalisiert, da ohne effizientere Versorgungsstrukturen sowie das Entfalten digitaler Potenziale für verbesserte Behandlung eine hochwertige Gesundheitsversorgung der Gesellschaft nicht breit zugänglich gemacht werden kann.
Im BVDW haben wir eine Vision für die Digitalisierung des Gesundheitswesens entwickelt, die entlang gesellschaftszentrierter Werte und unter Einbezug neuer technologischer Möglichkeiten ein digitales, faires und nachhaltiges Gesundheitswesen für das Jahr 2030 skizziert. Die drei zentralen Schwerpunkte liegen darauf, dass 1) alle Menschen ihr Grundrecht auf selbstbestimmte Gesundheitsgestaltung wahrnehmen, 2) gleich welchen Alters oder Hintergrunds alle befähigt werden, von digitalen Angeboten einer dezentralen Infrastruktur und Möglichkeiten der Gesundheitsgestaltung zu profitieren sowie 3) das bestehende zentral gesteuerte, institutionalisierte Gesundheitssystem mit Fokus auf Krankheit der Vergangenheit angehört.
Um auch auf die Frage zu pflegenden Robotern einzugehen: Robotische Systeme haben sich in der Rehabilitation, im Bereich der Krankenhaushygiene und der Herstellung von Medikamenten oder in der Laborarbeit etabliert. Neue Felder knüpfen sinnvollerweise an Pflege-, Service- und Mobilitätsfragen an, die bei alltäglichen Gesundheitsfragen – von der Terminbuchung, Pflegeplanung ambulant oder Abholservices zum Arztbesuch – für Erleichterungen von Prozessen und Organisation sorgen. Dabei nehmen sie eine unterstützende Rolle ein, indem sie körperlich schwere Arbeit erleichtern oder Aufgaben übernehmen, die leicht automatisierbar sind. Der Mehrwert ergibt sich nicht aus dem Versuch der Kopie menschlicher, komplexer Handlungen, die im Bereich sozialer Interaktion liegen, sondern genau da, wo Arbeiten selbige verhindern und verkürzen.
Du willst mehr erfahren? Dann schau dir BVDW-Masterclass noch einmal on Demand auf der DMEXCO @home an! Dort gibt es auch die Möglichkeit, weitere Informationen über die Autor:innen zu erfahren und noch mehr spannende Diskussionen rund um das Thema Digitalisierung zu verfolgen.