Stand der Digitalisierung des Bildungssektors in Deutschland
Digitale Bildungsangebote haben enormen Anteil an lebenslangem Lernen. Wir sprechen mit Jakob Huber, Education Marketing Lead, Microsoft Deutschland, darüber, wie weit die Digitalisierung im Bildungssektor mittlerweile fortgeschritten ist.
Hallo Jakob, lass uns mit einer kurzen Vorstellung für unsere Leser:innen starten: Wer bist du und was ist dein Bezug zum Bildungssektor in Deutschland?
Jakob Huber: Ich bin bei Microsoft als Marketing-Chef in Deutschland für den Bereich Bildung und Forschung verantwortlich. Das heißt, dass ich alle Marketing-Aktivitäten, unsere Go-to-Market-Strategie und auch die operative Umsetzung im Bereich der Schulen, Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Bibliotheken und Museen verantworte.
In den letzten Jahren stand der Bildungssektor vor besonders großen Herausforderungen. Wie bewertest du die Reaktion der Verantwortlichen im Bildungssektor auf die veränderten Anforderungen an Bildungsarbeit in Zeiten der flächendeckenden Schließung von Bildungseinrichtungen?
Jakob Huber: An dem auch für mich persönlich einschneidenden Datum 13. März 2020 wurden die ersten flächendeckenden Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie angekündigt. Mich hat damals besonders überrascht und beeindruckt, mit welcher Geschwindigkeit und Professionalität viele Schulen darauf reagiert haben. Wenn man sich die Dramatik der Situation 2020 vor Augen führt, gab es in vielen Schulen bei unglaublich vielen Lehrerinnen und Lehrern wahnsinnig agile, schnelle, problemlösungsorientierte Ansätze, die auch teilweise sehr schnell professionalisiert wurden. Das war wirklich eine sehr substanzielle Veränderung.
Auf der anderen Seite nicht ganz so überraschend, aber anders als erhofft haben wir dann nach dieser ersten Euphorie einen unglaublich starken Pushback erlebt – in anderen Kontexten gerne als „back to normal“ bezeichnet. Es gab aus ganz vielen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen den massiven Versuch, diese durchaus positiven Entwicklungen, die mit den Schulschließungen einhergingen – wie beispielsweise die stärkere Selbstständigkeit, mit der Schülerinnen und Schüler arbeiten mussten und konnten – wieder zurückzudrehen. Zurück zu: Lernen findet nur in Präsenz und im Schulgebäude statt. Dieses Narrativ, das sich dort entwickelt hat und das wir bis heute sehen, hat viele positive Entwicklungen wie auch die Fortbildungsbereitschaft von Lehrkräften sehr stark ausgebremst. Und letztlich hat dieses „Zurückdrehen“ viel Frustrationspotential geschaffen, insbesondere bei den Menschen, die sich für diese Entwicklung engagiert haben. So folgte auf Euphorie Enttäuschung und eben Frustration. Und das sehen wir auch sehr stark.
Bildung spielt auch bei Erwachsenen eine immer größere Rolle, Stichwort „lebenslange Bildung“. Gleichzeitig ändert sich die gesellschaftliche und berufliche Landschaft rasant. Welche Kompetenzen werden deiner Einschätzung nach in Zukunft essenziell sein?
Jakob Huber: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen in der Lage sein, mit Veränderungen gut umzugehen. Neugierig, offen für Neues und lernbereit zu sein, sind besonders wichtige Kompetenzen, die man unbedingt mitbringen muss, um anpassungsfähig zu sein. Eine der wichtigsten Kompetenzen an dieser Stelle ist auch die Fähigkeit, selbstständig zu lernen, also sich neue Dinge selbst anzueignen.
Und welche Rolle spielt die Digitalisierung in diesem Kontext?
Jakob Huber: Der Diplom-Pädagoge Jöran Muuß-Merholz nennt Technologie und Digitalisierung ganz präzise einen Verstärker. Mit Technologie kann ich das verstärken, was ich ohnehin gerne mache und gut kann. Ich kann mich also besser auf die Couch fläzen mit Netflix und Co., als ich es vor der Digitalisierung konnte. Ich kann mich aber auch dank Social Media besser mit Menschen vernetzen, wenn mir das wichtig ist. Ich glaube, diese Verstärkerrolle der Digitalisierung ist das Entscheidende, auf das wir uns einstellen müssen. Und da kommt es dann auch ganz essenziell darauf an, dass wir uns auf unsere menschlichen Kernkompetenzen zurückbesinnen.
Was meinst du mit menschlichen Kompetenzen?
Jakob Huber: Ein Kollege von mir bezeichnet das für den Bildungsbereich als „humanizing education“. Das heißt, dass wir aus den mechanischen und maschinellen Verständnissen von Bildungsprozessen herauskommen – Stichwort: Stoff – und uns stärker auf menschlichen Faktoren besinnen wie Empathie, Einfühlungsvermögen, Offenheit, Lernbereitschaft.
Ist das Bildungswesen bereit für die Anforderungen, die mit dem lebenslangen Lernen in Zeiten der Digitalisierung einhergehen?
Jakob Huber: Ja und nein. Was ich aus persönlicher Erfahrung und Gesprächen mit Professorinnen und Professoren, Schulleitungen, aber auch mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern im Bildungswesen als Eindruck insgesamt gewinne, ist, dass es teilweise eine enorm hohe Innovationskraft gibt, um den Bildungssektor zu verändern.
Ich denke zum Beispiel an die International University. Das ist inzwischen Deutschlands größte Hochschule mit über 100.000 Studierenden, die ganz interessante und völlig neue Konzepte des Studierens entwickeln. Das bleiben aber zumindest aktuell nur Ausnahmefälle, die an dem persönlichen Engagement einzelner Schulleitungen, einzelner Präsidentinnen und Präsidenten, einzelner Fachlehrerinnen und Fachlehrer hängen.
Was uns in Deutschland fehlt, ist eine größere bildungspolitische Vision und Strategie, wie wir zu diesem Ziel kommen.
Was braucht es für diese größere bildungspolitische Vision?
Jakob Huber: Innovation kann nur entstehen, wenn auch Zeit da ist. Niemand kann Grundlagenfragen überdenken, bearbeiten, sich Konzepte überlegen oder Neues ausprobieren, wenn der Arbeitstag nicht ausreicht, um das „Daily Business“ zu schaffen. Wir haben gerade ein massives Problem mit den Zeitressourcen, insbesondere im Schulbereich, weil wir schlicht nicht genug Lehrkräfte haben. Wer immer nur Feuer löscht kommt nicht dazu, mal einen Schritt zurück zu gehen und das große Ganze in den Blick zu nehmen.
Welche Chancen birgt die Digitalisierung für die Erwachsenenbildung?
Jakob Huber: Ich bin als Arbeitnehmer durch die Digitalisierung in der Lage, auch berufsbegleitend und begleitend zu meinem privaten Alltag an fast allen Bildungsangeboten der Welt teilzuhaben. Und ich glaube, das ist einer der allergrößten Gewinne von Digitalisierung für das Lernen auch nach der Schule.
Und dann – das ist dann eher die Arbeitgeberinnen- und Arbeitgeberseite – erlaubt uns die Digitalisierung von Lernangeboten eine andere Form von Messbarkeit.
Wenn ich sehe, dass ich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifiziert habe und diese anschließend bessere Ergebnisse erzielen – das ist etwas, das die Digitalisierung von Lernangeboten deutlich einfacher und umfangreicher macht. Natürlich muss man dann bestimmte Aspekte des Daten- und Mitarbeiterschutzes beachten, aber wenn man aggregierte, anonymisierte Daten verwendet, können Lerndaten auch beim beruflichen Lernen sehr wertvoll sein. Man kann damit nämlich viel besser feststellen, welche Lernangebote überhaupt verwendet werden, welche Fortschritte ich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehen kann, die diese Lernangebote wahrgenommen haben, und was nachgefragt wird.
Stichwort „datengetriebene Bildung“: Wo steht Deutschland dabei im internationalen Vergleich?
Jakob Huber: Ganz hinten. Das ist etwas, das hier in Deutschland fast gar nicht passiert. Es kommt immer mal wieder in Schlagworten vor, bei uns heißt das dann so nett „intelligente tutorielle Systeme“. In der Realität wird das aber eigentlich eher weggedrängt und als Bedrohung und Risiko wahrgenommen. Das hängt sicher auch mit der hohen Sensibilität für Datenschutz in Deutschland zusammen.
Wie wirkt sich das auf den (Fort-)Bildungsstandort Deutschland aus?
Jakob Huber: Vor dem Hintergrund, wie schnell sich die Welt ändert und wie schnell sich also auch Bildungsprioritäten möglicherweise ändern müssen, ist Learning Analytics enorm wertvoll. Da sind wir in Deutschland gerade völlig auf dem Abstellgleis. Und ich sehe auch nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändert. Diese Verweigerungshaltung gegenüber Datenerfassung und Messbarkeit ist meiner Meinung einer der größten Risikofaktoren nicht nur für das Bildungssystem, sondern für den Standort Deutschland insgesamt.