„Der Anspruch an Ethik in der Digitalbranche wächst“

BVDW-Präsident Matthias Wahl im Interview

BVDW-Präsident Matthias Wahl
BVDW Präsident, Matthias Wahl

Bis zur DMEXCO 2019 sind es nur noch wenige Tage. Wie hat sich die DMEXCO aus deiner Sicht in den vergangenen Jahren entwickelt?

Matthias Wahl: Die DMEXCO existiert in ihrer jetzigen Form mehr als zehn Jahre, ist in den letzten Jahren aber deutlich gewachsen. Während die Messe in den ersten Jahren eine Art Klassentreffen der Digitalmarketer war, hat sie sich nun zu einem Treffpunkt der globalen Digitalwirtschaft entwickelt. Wir beobachten, dass die komplette Industrie dabei ist, sich zu digitalisieren, und das erleben wir auch heute hier auf der DMEXCO. Trendthemen wie Künstliche Intelligenz oder Internet of Things rücken verstärkt in den Fokus.

Wie nah ist die Messe damit noch am alltäglichen Geschäft der Digitalbranche?

Matthias Wahl: Eben diese Nähe zeichnet die DMEXCO aus und macht sie zur Leitveranstaltung der globalen Digitalwirtschaft. Als Träger der Messe ist der BVDW aber in der Verantwortung, die Belange der Branche dort angemessen abzubilden. Unser primäres Ziel ist es, die Herausforderungen und Trends, die den deutschsprachigen und europäischen Markt maßgeblich treiben und beschäftigen, auf der DMEXCO in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Themen müssen wir international einbetten, um einerseits von Entwicklungen in anderen Märkten zu lernen und andererseits internationalen Besuchern Einblick in unsere Erfahrungen zu geben.

Welche BVDW-Aktivitäten dürfen wir erwarten?

Matthias Wahl: Das ist ein bunter Strauß, in aller Kürze: Wir laden die Besucher ein zu exklusiven Guided Tours zu den Messehighlights, bieten ein Agentur-Speeddating für Nachwuchskräfte sowie 19 verschiedene Seminars zu Themen aus den Bereichen Digital Advertising und Digital Transformation. Auf unserem Gemeinschaftsstand Digital Lounge geben wir auch kleineren Mitgliedsunternehmen die Möglichkeit, sich auf der DMEXCO zu präsentieren. Ein Höhepunkt des ersten Messetages ist unser Nachwuchspreis Challenge Award. Hier rufen wir in Kooperation mit CoreMedia Junioren auf, ihre besten Ideen für die Markeninszenierung der Zukunft einzureichen. Die Finalisten präsentieren sich am 11. September dem großen DMEXCO-Publikum. Die Gewinner, die per Live-Voting durch die Zuschauer ermittelt werden, fliegen zu den Cannes Lions 2020.

Die DMEXCO 2019 hat „Trust in you“ als Motto. Welche Rolle spielt Vertrauen im aktuellen Kontext?

Matthias Wahl: Mit Entwicklungen wie künstliche Intelligenz oder Internet der Dinge einhergehend wächst der Anspruch der Branche und der Nutzer an Ethik in der Digitalen Wirtschaft. Das drückt sich auch im diesjährigen DMEXCO-Motto aus. Die Branche ist sich ihrer Verantwortung bewusst: Aus den Ergebnissen einer Studie, die wir auf der DMEXCO veröffentlichen werden, geht hervor, dass das Thema Ethik für mehr als die Hälfte der Unternehmen der Digitalbranche einen hohen oder sehr hohen Stellenwert bei der Entwicklung neuer Produkte hat. Das Thema ist in der Branche angekommen. Als Digitalverband sind wir in der Pflicht, entsprechende Diskussionen mit Öffentlichkeit, Politik und den Unternehmen anzustoßen.

Apropos Vertrauen: Es ist absehbar, dass das Vereinigte Königreich in wenigen Wochen ohne Abkommen aus der EU austreten wird. Inwiefern wird das auch die Digitalbranche treffen?

Matthias Wahl: Der Brexit wird die Digitalbranche besonders hart treffen, da zahlreiche Dependancen und Tech-Dienstleister im Vereinigten Königreich sitzen. Die größte Herausforderung dürfte darin liegen, dass ab November keine Rechtsgrundlage für den Datenaustausch zwischen EU und UK mehr vorliegt. Damit wird ein solcher Datenaustausch nach UK schwieriger werden als nach Uruguay – eine für Daten fast undurchlässige Grenzmauer.

Was sind die Folgen für die Digitale Wirtschaft?

Matthias Wahl: Wir bereiten unsere Mitglieder darauf vor, dass sie sich bis zum Austrittstermin mit Alternativen beschäftigen werden müssen. Auch wenn es durchaus wahrscheinlich ist, dass eine Rechtsgrundlage für den Datenverkehr geschaffen werden wird, wissen wir doch aus der Erfahrung, dass eher Jahre als Monate dauern kann. Einen solchen Stillstand wird sich kaum ein Unternehmen und auch nicht Branche als Ganzes leisten können. Deshalb verlegen schon jetzt Unternehmen und Dependancen europäischer Unternehmen ihren Sitz aus Großbritannien in Richtung EU. Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass die Auswirkungen für UK sicher deutlich stärker zu spüren bekommen wird, wir aber dennoch vor einer riesigen Herausforderung stehen.

Wie steht Deutschland überhaupt da im europäischen Vergleich?

Matthias Wahl: Der von der EU-Kommission im Juni veröffentlichte Index für die Digitale Wirtschaft und Gesellschaft offenbart: In Deutschland schreitet die digitale Transformation weit langsamer voran als im europäischen Vergleich. In Hinblick auf die Integration digitaler Business-Lösungen liegen 14 Länder vor der Bundesrepublik. Im Bereich Breitbandausbau reicht es gerade so für Platz elf. Bei der Umsetzung der digitalen Verwaltung hat Deutschland den Anschluss gänzlich aus den Augen verloren: Der Index sieht Deutschland abgeschlagen auf dem drittletzten Platz. In Hinblick auf die Rahmenbedingungen steht es also gar nicht gut um das Digitalland Deutschland. Eigentlich müsste es unser Anspruch sein, als Europas stärkste Volkswirtschaft auch an der Spitze der Digitalisierung zu stehen. Nun sieht es so aus, dass wir uns strecken werden müssen, um das Mittelmaß zu halten. Diese Themen müssen dringend entsprechend politisch priorisiert werden – wir haben den Anschluss verloren. Wir müssen verhindern, dass Probleme wie schlechter Netzausbau noch stärker zum limitierenden Faktor unserer Wirtschaft werden.

Was muss sich ändern?

Matthias Wahl: Hier sehe ich vor allem zwei Kernthemen: Erstens müssen die Digitalthemen endlich politisch priorisiert werden. Der Digitalpakt Schule zeigt, wie das eben nicht funktioniert. Mit solcher Behäbigkeit verlieren wir international den Anschluss. Zweitens – und das muss vor allem auf europäischer Ebene gelöst werden – brauchen wir regulatorische Rahmenbedingungen, die den technischen Möglichkeiten gerecht werden und Europa das volle Potenzial der Digitalisierung ausschöpfen lassen. Wie groß dieses Potenzial ist, zeigt die DMEXCO in diesem Jahr sehr eindrucksvoll.